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Seit Neuestem trägt der Niemblog den Untertitel „nachhaltig – gewaltfrei – vegan“. Die Wörter „nachhaltig“ und „vegan“ sind ja mittlerweile irgendwie klar – insbesondere im Kontext vieler meiner Blogartikel. Aber „gewaltfrei“ benötigt vielleicht noch eine Erklärung – oder besser gesagt: ich würde gerne erklären, was „gewaltfrei“ für mich bedeutet und warum ich das wichtig finde.
Zunächst ging es mir darum, dass ich irgendwie kenntlich machen wollte, dass ich mittlerweile auch ab und zu über „Gewaltfreie Kommunikation“ schreibe. Dann hab ich gedacht: Naja, vielleicht schreibst du dann einfach „gewaltfrei“, das passt doch bestimmt. Damit ich mir aber nicht einen Hut aufsetze, der mir nicht passt, habe ich mich etwas eingehender mit den Themen Gewalt und Gewaltfreiheit befasst.
Gewaltfreiheit nach Gandhi mit Übergang zur Jetzt-Zeit
Wenn über Gewaltfreiheit [1]eigentlich hieß Gandhis Weg „Satyagraha“ – übersetzt mit „an der Wahrheit festhalten“ nach Gandhi [2]vgl. Satyagraha und Ahimsa gesprochen wird, dann immer als Mittel zum Zweck – d.h. gewaltfreie Aktionen, wie z.B. der Salzmarsch, mit einem bestimmten politischen Ziel vor Augen. Für ihn war aber vor allem die Haltung dabei wichtig. Dem Gegner sollte freundschaftlich und ohne Hass gegenübergetreten werden. Er sollte überzeugt werden, anstatt dazu gezwungen, entgegen seiner Überzeugung zu handeln. Und das ist für mich der springende Punkt: den anderen trotzdem noch als Menschen zu sehen, anstatt als das personifizierte Böse.
Mittlerweile meine ich, dass typischerweise eher gewaltfreie als gewalttätige Aktionen für politische Zwecke gewählt werden. Z.B. Sitz-Blockaden, Menschenketten, Flash-Mobs, Trauermärsche, usw. Das ist nichts besonderes mehr. Trotzdem glaube ich, dass die innere Haltung meist eher von einem „wir gegen die“, als von einem „wir versuchen die andere Seite zu verstehen und versuchen einen Kontakt herzustellen“ geprägt ist. Und damit ist die nach außen hin völlig gewaltfreie Aktion am Ende doch geprägt von einer gewalttätigen Haltung.
In dem Sinne, wie ich die Gewaltfreiheit nach Gandhi interpretiere, gehe ich da teilweise mit. Ein Punkt, bei dem ich nicht übereinstimme, ist seine Ansicht, dass eine gewisse Leidensbereitschaft notwendig ist, um gewaltfreie Aktionen umzusetzen. So ging er unzählige Male ins Gefängnis und hat dort mehrere Lebensjahre zugebracht. Ich glaube nicht, dass Leiden notwendig ist – dafür aber ein Verlassen der eigenen Komfortzone. Und das mag zunächst schmerzlich sein.
Strukturelle Gewalt
Johan Galtung hat den Begriff „strukturelle Gewalt“ geprägt und definiert ihn wie folgt:
„Strukturelle Gewalt ist die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist.“
Damit ist einfach gemeint: Diskriminierung und ungleiche Chancen auf Bildung/Arbeit/Partnerschaft/usw. in jeglicher Form ist Gewalt.
Tatsächlich begegne ich in meinem Leben zwar kaum körperlicher Gewalt, dafür erlebe ich überall strukturelle Gewalt: Der Obdachlose am Straßenrand, der nicht die gleichen Möglichkeiten in seinem Leben hat, wie der Siemens-Mitarbeiter. Die alleinerziehende Mutter, die nicht die gleichen Chancen auf Job und Ausbildung hat, wie eine Frau in einer Partnerschaft. Die Frau mit einem ausländischen Nachnamen, die nicht die gleichen Karrierechancen hat, wie ein Mann mit einem deutschen Nachnamen. Und diese Reihe könnte ich endlos fortsetzen.
Wenn man von struktureller Gewalt spricht, dann sehe ich Gewaltfreiheit als Ziel – und als Mittel ist sie sowieso etabliert.
Gewalt im Sinne der Gewaltfreien Kommunikation (GFK)
Marshall Rosenberg, dem Begründer der Gewaltfreien Kommunikation, zufolge, beginnt Gewalt bereits in der Sprache: wenn ich andere Menschen beurteile; wenn ich jemanden lobe oder tadle; wenn ich jemanden beleidige; wenn ich jemandem eine Diagnose ausstelle; wenn ich Vergleiche anstelle zwischen Personen.
Aber nicht nur, wenn ich andere berurteile, wende ich Gewalt an. Auch wenn ich mich selbst verurteile, mich vergleiche, mich niedermache, wenn ich meine eigenen Bedürfnisse ignoriere – auch das ist bereits Gewalt.
Denn wenn ich etwas davon tue, stelle ich mich über oder unter jemand anderen. Ich teile ein in richtig und falsch, gut und schlecht, okay und nicht-okay.
In der GFK geht es mir also darum, gerade auch diese Form von Gewalt zu vermeiden. Anstatt dessen beschreibe ich, wie es mir geht, was es mit mir macht, wenn ich xy höre, was ich brauche und um was ich bitte. Oder ich frage, wie es dir geht und was du brauchst, damit dein Leben schöner wird.
Video: Marshall Rosenberg – The Basics of Nonviolent Communication (englisch mit englischen Untertiteln)
Das Ganze ist extrem ungewohnt. Immerhin lernen wir unser Leben lang, dass wir uns schützen müssen und bloß niemandem erzählen dürfen, wie wir uns fühlen und was wir brauchen. Gleichzeitig erwarten wir, dass andere Menschen genau das erraten, ohne dass wir etwas sagen müssen.
Ein ganz alltägliches Beispiel:
Er: Ich geh jetzt in die Kneipe.
Sie: …
Er: Alles in Ordnung?
Sie: Jaja…
Er: Na, ich geh dann mal!
In GFK:
Er: Ich geh jetzt in die Kneipe.
Sie: Oh, da bin ich jetzt aber ziemlich enttäuscht. Ich hätte mir heute abend ein bisschen Gesellschaft gewünscht. Könntest du dir auch vorstellen, bei mir zu bleiben und wir schauen uns einen Film an?
Und dann kann verhandelt werden. Vielleicht wünscht „Er“ sich Entspannung nach dem langen Arbeitstag und Film schauen mit der Partnerin passt genauso wie ein Abend in er Kneipe. Vielleicht wünscht er sich aber auch, dass ihm jemand zuhört. Dann passt der Filmabend nicht dazu. Andererseits hat „Sie“ ja vielleicht auch Lust, zuzuhören und zu reden, wenn es ihr vor allem um Gesellschaft geht.
Indem ich transparent mache, wie es mir geht und was ich brauche, kann ich viel Frustration und Ärger vermeiden – und damit Gewalt in Wort und Tat.
Hier geht’s zu einem ausführlicheren Artikel zur GFK.
Abgrenzung: Gewalt und Wut
Gewalt entsteht oft aus Wut gepaart mit Hilflosigkeit – und einem Unvermögen auf eine gewaltfreie Art für mich zu sorgen. Aus dem Erleben von Wut und Hilflosigkeit und dem Resultat Gewalt kann eine Angst davor entstehen, Wut zu zeigen und dadurch die Kontrolle zu verlieren. So erlebe ich Situationen, die mich wütend machen – und dann erfolgt unbewusst die Reaktion: Wut wegdrücken.
Doch die Wut macht mich darauf aufmerksam, dass ein bestimmtes Bedürfnis in mir gerade unerfüllt ist. Sie wegzudrücken distanziert mich von meinem eigenen Gefühlsempfinden – und von der Tatkraft, die durch Wut entsteht.
Wie schön wäre es, wenn meine authentische Wut weder in mir noch in anderen Angst auslösen würde. Und wenn ich sie dann noch auf eine gewaltfreie Art ausdrücken könnte!
Gewaltfreiheit gegenüber allen Lebewesen
Gewaltfreiheit gegenüber allen Lebewesen wird in seiner striktesten Form von den Jains [3]Anhänger des Jainismus, einer Religion, die in Indien beheimatet ist praktiziert. Es dürfen nicht nur Wirbeltiere nicht verletzt oder getötet werden, sondern auch auf Käfer, Würmer und noch kleinere Lebewesen soll Rücksicht genommen werden. Auch Pflanzen gelten als Lebewesen, die nicht unnötig geschädigt werden dürfen.
Mittlerweile ist hinlänglich bekannt, dass Tiere Schmerz empfinden und Gefühle und Bedürfnisse haben, für die sie sich einsetzen, wenn sie die Möglichkeit dazu haben. Für mich heißt das, dass ich das Prinzip der Gewaltfreiheit auch auf Tiere anwende und daher vegan lebe. [4]Gleichzeitig, das muss ich zugeben, habe ich kein Mitleid mit Lebensmittelmotten, Flöhen, Stechmücken, Zecken und Läusen. Aber das ist ein anderes Thema, über das ich hier geschrieben habe.
Zum Schluss
Für mich ist selbstverständlich, dass Gewalt im Sinne von physischer oder psychischer Gewalt kein Mittel ist, das ich zur Erfüllung eines Zweckes einsetzen will. Denn selbst wenn ich Gewalt erfolgreich einsetze um eine Veränderung zu erreichen, wird diese Veränderung aus Zwang geschehen. Und das wird dazu führen, dass sich am Ende wieder andere Menschen gegen diese neue Gewalt auflehnen – wieder mit Gewalt. Und schon haben wir eine Spirale der Gewalt.
Und das gleiche passiert auch, wenn ich bewerte, beurteile oder beleidige – also eine gewalttätige Sprache spreche. Und je mehr ich in einer inneren Haltung von „es gibt gute und schlechte Menschen“ stecke, umso eher klingt Gewalt für mich wie eine annehmbare Lösung.
Deswegen ist für mich die Grundvoraussetzung von Gewaltfreiheit eine Haltung, die geprägt ist von der Annahme, dass jeder Mensch gute Gründe für sein Handeln hat; dass jeder Mensch das Beste tut, was ihm im Augenblick möglich ist; und dass jeder Mensch gerne zum Wohl anderer Menschen beiträgt – wenn seine Bedürfnisse erfüllt sind.
Fußnoten
↑1 | eigentlich hieß Gandhis Weg „Satyagraha“ – übersetzt mit „an der Wahrheit festhalten“ |
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↑2 | vgl. Satyagraha und Ahimsa |
↑3 | Anhänger des Jainismus, einer Religion, die in Indien beheimatet ist |
↑4 | Gleichzeitig, das muss ich zugeben, habe ich kein Mitleid mit Lebensmittelmotten, Flöhen, Stechmücken, Zecken und Läusen. |
„Wenn man von struktureller Gewalt spricht, dann sehe ich Gewaltfreiheit als Ziel – und als Mittel ist sie sowieso etabliert.“
Gerade in der Diskriminierungs-Debatte schlägt mir oft eine Form von Ablehnung entgegen, anstatt Überzeugungsarbeit zu leisten und in Dialog zu treten. Ein Beispiel ist der Kommentar von Felix: http://greenject.de/warum-es-ok-ist-als-weisser-dreads-zu-tragen/#comment-144
Kannst du mir erklären, was du damit meinst?
Ansonsten find ich deine Ansicht sehr gut und die Beschreibung gelungen 🙂
Ich meine damit, dass es Ziel sein sollte, strukturelle Gewalt aufzulösen. Und dass gewaltfreie Aktionen als Mittel um das zu tun meiner Ansicht nach bereits etabliert sind – allerdings mit der Einschränkung, dass viele Aktionen nur nach außen hin gewaltfrei sind und leider trotzdem durch eine Haltung von „wir gegen die“ geprägt sind – wie oben geschrieben.
Ich finde das Thema Privileg ziemlich komplex. Zumal ich auch erst vor einem halben Jahr damit konfrontiert wurde und das zuvor noch überhaupt nicht in meinen Gedanken war. Allerdings habe ich letztens den ultra-spannenden Blog einer amerikanischen GFK-Trainern entdeckt, die dazu und zu vielen anderen Themen (z.B. Gift Economy) Artikel geschrieben hat: http://thefearlessheart.org/facing-privilege-calls/
Hm, ich weiß jetzt nicht, ob ich deine Frage wirklich beantwortet hab. Aber ich glaub ich weiß auch nicht so recht wie. Die Themen Diskriminierung, Rassismus und Privilegiertheit sind eine ziemlich explosive Mischung und eine gewisse Gelassenheit, die Bereitschaft, sich auf den anderen einzulassen und das Hinterfragen von eigenen Grundannahmen braucht es, denke ich, um einen konstruktiven Dialog zu führen.